Snowdens Enthüllung über die NSA
Wozu brauchen Demokratien den totalen Überwachungsstaat?
Orwells düstere Utopie vom totalen Überwachungsstaat („1984“) wird offenbar anders wahr, als es sich der Literat damals gedacht hat. Wikileaks wollte die Institutionen der Herrschaft transparent machen und sie auf diese Weise ihres Herrschaftscharakters entkleiden. Wie es aussieht, hat vor allem der Bürger sich durch den Gebrauch neuer Technologien transparent gemacht und produziert eine Unmenge an Informationen, die von Geheimdiensten weltweit abgeschöpft und von den Behörden für die politische Kontrolle ihrer Bürger genutzt werden. Der Hinweis „Stasi!“ hat einmal ausgereicht, um den gesamten DDR-Staat in Bausch und Bogen zu verdammen. Geheimdienstfachleute der Demokratie finden allerdings gar nichts dabei, sich zur vollständigen Überwachung des Fußvolks zu bekennen. Sie beanspruchen, in ihrer Sprache, eben den „ganzen Heuhaufen“, um die berühmte „Nadel“ darin zu finden. Das gilt hierzulande nicht als Praxis, die einer Diktatur ziemt, sondern als Leistung für die Bürger. Denn die staatlichen Stellen in Amerika und Deutschland rechtfertigen die Überwachung der elektronischen Kommunikation damit, dass sie dem Bürger außer der Freiheit auch noch seine Sicherheit zu gewährleisten hätten und dass hundert Prozent von beidem zugleich leider nicht zu haben sei. Die Wahrheit ist das nicht. Rechtsstaat und totale Überwachung gehören aus einem anderen Grund zusammen.
Der Abhörskandal hat sich mittlerweile ausgeweitet. Er betrifft nicht mehr nur das Verhältnis zwischen Staat und Bürger, sondern auch das zwischen den Staaten selbst. Der US-Geheimdienst NSA hat das Handy von Kanzlerin Merkel abgehört. Die gibt sich wie die gesamte Nation empört: „Abhören unter Freunden, das geht gar nicht!“ Dass es doch geht, ist ja nun erwiesen. Dass der US-Präsident die Regierungschefin einer befreundeten Nation ausspionieren lässt, gilt als enormer Vertrauensbruch. Weniger wahrgenommen und als unangebrachtes Misstrauen angeprangert wird dagegen die Absicht zur Geheimhaltung gegenüber dem amerikanischen Freund, die ja wohl auf deutscher Seite vorliegen muss. Sonst gäbe es nichts auszuspähen. Warum empören sich die nationalen Repräsentanten über die Anwendung geheimdienstlicher Mittel auch unter– und gegeneinander, die sie gleichzeitig unverdrossen weiter betreiben? Wozu brauchen Demokratien überhaupt Geheimdienste, die doch einmal als Erkennungsmerkmal böser Diktaturen galten?